Ort

Kreuz – gelegen im Grenzgebiet von Großpolen und des Lebuser Landes – entstand im 19. Jahrhundert als deutsche Eisenbahnsiedlung am Kreuzungspunkt wichtiger Bahnstrecken. Stets spielte die Eisenbahn eine große Rolle in Kreuz: Es waren vor allem Eisenbahner und Kaufleute, die diesen Ort geprägt hatten. Schon lange vor der formalen Erlangung der Stadtrechte 1936 pulsierte in Kreuz das Leben. Als 1919 durch den Versailler Vertrag der nahe Fluss Netze als deutsch-polnischen Grenze festgelegt wurde, übernahm das beim Deutschen Reich verbliebene Kreuz die Funktionen einer Grenzstadt. Die Polen aus den umliegenden Dörfern hielten sich weiterhin oft in dem Ort auf: sie kamen zum Einkaufen, gingen zum Friseur, teilweise besaßen sie auf der deutschen Seite Ländereien, ebenso wie Deutsche auf der polnischen Seite. Im Ort selbst lebten allerdings keine Polen, er wurde nur von Deutschen bewohnt, darunter auch von einer kleinen jüdischen Minderheit.

Im Jahr 1938 verschwanden aufgrund der von Nazi-Deutschland betriebenen Rassenpolitik die Kreuzer Juden – sie wurden zur Ausreise gezwungen und ihr Besitz konfisziert. Im darauffolgenden Jahr, nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, tauchten in Kreuz polnische Zwangsarbeiter aus den umliegenden Dörfern auf. Sie arbeiteten in Handwerksbetrieben und auf Bauernhöfen und ersetzten somit oft deutsche Männer, die einer nach dem anderen an die Front geschickt wurden. Als sich im Januar 1945 die Rote Armee Kreuz näherte, entscheiden sich die meisten Deutschen, vorwiegend ältere Leute, Frauen und Kinder, für die Flucht. Wer per Zug raus kam, hatte Glück. Wer mit Pferd und Wagen oder zu Fuß flüchtete, kam dabei oft ums Leben. Die Zurückgebliebenen hatten es am schwersten: Raub und Zerstörung, erniedrigende Behandlung, Vergewaltigung und Ermordung von Zivilisten waren an der Tagesordnung.

Nach dem Durchzug der Front kehrten viele Flüchtlinge aus Kreuz im Frühjahr 1945 in ihre verwüstete Heimatstadt zurück – die Rote Armee hatte sie zu großen Teilen zerstört und niedergebrannt. Doch schlimmer als die Zerstörungen war für sie, dass das alte Kreuz aufgehört hatte zu existieren – die Stadt nannte sich nun Krzyż und war unter polnischer Verwaltung. Die tatsächliche Gewalt übte die Rote Armee aus, nur die Bahn wurde von polnischen Eisenbahnern aus Posen verwaltet. Die zurückgekehrten Deutschen leisteten größtenteils Zwangsarbeit für die Sowjets und Polen – oft am gleichen Arbeitsplatz, wie zuvor die polnischen Zwangsarbeiter. Die neuen Bewohner behandelten sie verschieden. Es kam vor, dass einige nach den harten Erfahrungen der deutschen Besatzung kein besonderes Mitleid mit den ehemaligen Besatzern empfanden. Doch es gab auch jene, die in ihnen Leute sahen, die gerade ihre Heimat verlieren.

Die ersten Polen in Krzyż waren die Eisenbahner, die im April 1945 die zerstörte Eisenbahn und das Wasserelektrizitätswerk wieder in Gang brachten. Siedler aus den umliegenden Dörfern übernahmen die Häuser und Höfe, die die Deutschen verlassen hatten. Im Mai 1945 kam der erste Transport von „Repatriierten“ aus dem Osten nach Krzyż – aus den Gebieten, welche nun die Sowjetunion besetzte. Die Ankömmlinge stammten aus verschiedenen Teilen der heutigen Ukraine, Weißrusslands und Litauens. Selten verließen sie ihre Heimat freiwillig: Größtenteils reisten sie aus Furcht vor sowjetischen Repressionen oder wegen des wachsenden polnisch-ukrainischen Konflikts aus. Oder einfach, weil sie nicht Bürger der Sowjetunion werden wollten. Oft lebten sie nach ihrer Ankunft in Krzyż mehrere Wochen oder Monate mit Deutschen, die auf die Ausweisung nach Deutschland warteten, unter einem Dach. Dieses Nebeneinander ist ein besonderer Moment in der Geschichte der Stadt, der sich in das Gedächtnis der Deutschen und Polen, die ihn erlebt haben, deutlich eingeprägt hat. Der letzte Transport von Deutschen verließ den Bahnhof in Krzyż im Oktober 1946. Nur wenige Deutsche blieben zurück. Paradoxerweise ist die Erfahrung beider Gruppen ähnlich – infolge des Krieges verloren sie ihre Häuser und wurden zu Vertriebenen. Doch wurde ihnen dieses Schicksal verschieden erklärt: Während die Deutschen die Kollektivverantwortung für den Zweiten Weltkrieg übernahmen, konnten die Polen in die „Wiedergewonnenen Gebiete zurückkehren“.

In den Jahren 2007-2009 hat die Stiftung Karta dank der finanziellen Unterstützung der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit ein Projekt zur Dokumentierung der Geschichte der Stadt Krzyż im 20 Jahrhundert durchgeführt. Insgesamt wurden 60 biographische Interviews aufgezeichnet. Es ist uns gelungen, in Deutschland 13 ehemalige Einwohner von Kreuz ausfindig zu machen – ohne deren Stimme wäre die Geschichte dieses Ortes nicht vollständig gewesen. Unter den interviewten Polen, die nach 1945 nach Krzyż kamen, sind Eisenbahner aus Großpolen, „Repatriierte“ aus dem Osten, aber auch diejenigen, die vor dem Krieg auf der anderen Seite des Flusses, auf der polnischen Grenzseite, gewohnt hatten und während des Krieges als Zwangsarbeiter in Kreuz waren. Sie haben uns erzählt, wie die Stadt in den ersten Nachkriegsmonaten aussah, berichteten von dem schwierigen Wiederaufbau und die Schaffung einer neuen Gemeinschaft, aber auch von der Anpassung an einen völligen neuen Ort und der Sehnsucht nach der Heimat. Wir haben auch mit Zugereisten aus Zentralpolen gesprochen, die infolge einer staatlichen Umsiedlungsaktion und auf der Suche nach einem besseren Leben etwas später in die „Wiedergewonnenen Gebiete“ kamen. Außerdem interviewten wir Polen, die als Zwangsarbeiter im Deutschen Reich eingesetzt waren und sich nach dem Krieg in den „Wiedergewonnenen Gebieten“ niederließen, weil sie aus verschiedenen Grünen nicht in ihre Heimat zurückkehren konnten.

Wir bedanken uns bei allen unseren polnischen und deutschen Gesprächspartnern. Ihre Stimme erzählt hier die Geschichte von Kreuz und Krzyż.